Brief von Egon Schiele an Heinrich Benesch
ESDA ID
903
Nebehay 1979
813
Bestandsnachweis
Albertina, Wien
Ort
Neuhaus in Böhmen (Jindřichův Hradec)
Datierung
05.07.1915 (eigenhändig)
Material/Technik
Bleistift auf Papier
Maße
17,4 x 11,2 cm (Seite)
9,3 x 11,8 cm (Kuvert)
9,3 x 11,8 cm (Kuvert)
Transkription
Montag
Lieber Herr Benesch!
Ich danke Ihnen herzlichst für die Karte, – ich konnte Ihnen bis heute nicht schreiben, weil ich vielleicht die schwersten 14 Tage meines Lebens übertaucht habe. Am 21. Juni, 8 Uhr, mußte ich einrücken, und zwar in ein großes Ausstellungsgebäude in Prag, – so wie bei uns die Rotunde, – dort wurde einige Tage gewartet, bis alle Einberufungen, zirka 10–12.000 Mann beisammen waren. Wir haben auf Stroh geschlafen und wurden, weil diese Leute die berüchtigten 28er-Nachfolger waren, sehr strenge von Soldaten bewacht. – Niemand durfte in die Stadt, – ich konnte mit Edith [1] zufällig durch ein Gitter sprechen. Es kamen Herzschlag und verschiedene Ohnmachtsanfälle vor – ich sah, wie ein Soldat einen Mann gestoßen hatte und dieser vorne über tot zusammenstürzte – ich sah, wie die Tschechen kurzerhand übers Gitter sprangen – sie wurden einfach niedergeschossen. So war ich dort bis Sonntag den 27., an diesem Tag sind wir mit einem Lastzug hier angekommen und schlafen nun nicht in der Kaserne, sondern auf Stroh in Scheunen. In einer ganz gemeinen Einj.[ährig]-Freiw.[illigen]-Abteilung bin ich – die Leute sind furchtbar blöd und russophil. In einer Nacht pißte einer beim Dach hinunter und zufällig auf den Kopf eines Oberleutnants, das gab einen Krach – keiner von den Gaunern meldete sich und so blieben wir alles im Kasernenarrest. Unser Leutnant ist ein Wiener (Deutschmeister), auch gestern Sonntag sollten wir eingesperrt bleiben, – ich bat ihn, daß er uns Ausgang gäbe, weil meine Frau da ist, und da ich auch Wiener bin und richtig sagen kann, daß ich der Beste von der Sippe bin, so erlaubte er mir sofort. – Es wäre sehr, sehr schön in Neuhaus, ähnlich mit Krummau [!]; auch ein Teich ist da. – Um 4 Uhr wird geweckt, um halb 5 Uhr ist schwarzer Kaffee, um 5 Uhr „fertig sein“ und Abmarsch, um 11 Uhr sind wir vom Üben zurück, 12 Uhr ist Mittagsmenage, um 2 Uhr Abmarsch bis 6 Uhr – dann, an Wochentagen bis 8 Uhr, an Sonntagen von 2 bis 9 Uhr Ausgang. – Ach Gott! wie stumpfsinnig das ist! Edith wohnt im Hotel Central, Neuhaus in Böhmen, auch meine Post senden Sie, bitte, dorthin. Als ich frei hatte, war ich den ganzen Nachmittag zu Hause und war froh, meine Kleider tragen zu können – hinaus ging ich nicht, es ekelte mir von den Uniformen. Vielleicht können Sie mich einmal besuchen. Sie fahren über Wien K.F.J.B. [Kaiser Franz Josef Bahn] – Wesely-M. – Erschrecken Sie aber nicht über meinen Affenanzug. – Ich möchte mir eine Extrauniform machen lassen – es ist ja lächerlich, mit diesen blauen Blusen und Waschhosen herumzugehen, auch sind meine Schuhe bereits durchmarschiert, würde also unbedingt ein Paar neue brauchen. Wie es so tagelang regnete, da mußte ich immer die ganz durchnäßten Schuhe anhaben und wir exerzieren im strömenden Regen im Wasser. – Schon bevor ich nach Prag gefahren war, ersuchte ich H. B. [2] mir für die ausgesuchten und noch nicht bezahlten Bilder nur einen Teil, nämlich 400 Kronen, und in den drei nächstfolgenden Monaten je 200 Kronen zu schicken, – doch den Herren geht es zu gut, sie wissen von nichts und haben alles – während ich hingegen mich nicht rühren kann; – schäbig immerhin, wenn man mir in der Lage nicht einmal antwortet, wo ich alles opfern muß. Bitte, Herr B., besuchen Sie H. B., es wäre ja sehr dringend, und schreiben Sie mir gleich, was los ist.
Einstweilen herzliche Grüße
Egon Schiele
Lieber Herr Benesch!
Ich danke Ihnen herzlichst für die Karte, – ich konnte Ihnen bis heute nicht schreiben, weil ich vielleicht die schwersten 14 Tage meines Lebens übertaucht habe. Am 21. Juni, 8 Uhr, mußte ich einrücken, und zwar in ein großes Ausstellungsgebäude in Prag, – so wie bei uns die Rotunde, – dort wurde einige Tage gewartet, bis alle Einberufungen, zirka 10–12.000 Mann beisammen waren. Wir haben auf Stroh geschlafen und wurden, weil diese Leute die berüchtigten 28er-Nachfolger waren, sehr strenge von Soldaten bewacht. – Niemand durfte in die Stadt, – ich konnte mit Edith [1] zufällig durch ein Gitter sprechen. Es kamen Herzschlag und verschiedene Ohnmachtsanfälle vor – ich sah, wie ein Soldat einen Mann gestoßen hatte und dieser vorne über tot zusammenstürzte – ich sah, wie die Tschechen kurzerhand übers Gitter sprangen – sie wurden einfach niedergeschossen. So war ich dort bis Sonntag den 27., an diesem Tag sind wir mit einem Lastzug hier angekommen und schlafen nun nicht in der Kaserne, sondern auf Stroh in Scheunen. In einer ganz gemeinen Einj.[ährig]-Freiw.[illigen]-Abteilung bin ich – die Leute sind furchtbar blöd und russophil. In einer Nacht pißte einer beim Dach hinunter und zufällig auf den Kopf eines Oberleutnants, das gab einen Krach – keiner von den Gaunern meldete sich und so blieben wir alles im Kasernenarrest. Unser Leutnant ist ein Wiener (Deutschmeister), auch gestern Sonntag sollten wir eingesperrt bleiben, – ich bat ihn, daß er uns Ausgang gäbe, weil meine Frau da ist, und da ich auch Wiener bin und richtig sagen kann, daß ich der Beste von der Sippe bin, so erlaubte er mir sofort. – Es wäre sehr, sehr schön in Neuhaus, ähnlich mit Krummau [!]; auch ein Teich ist da. – Um 4 Uhr wird geweckt, um halb 5 Uhr ist schwarzer Kaffee, um 5 Uhr „fertig sein“ und Abmarsch, um 11 Uhr sind wir vom Üben zurück, 12 Uhr ist Mittagsmenage, um 2 Uhr Abmarsch bis 6 Uhr – dann, an Wochentagen bis 8 Uhr, an Sonntagen von 2 bis 9 Uhr Ausgang. – Ach Gott! wie stumpfsinnig das ist! Edith wohnt im Hotel Central, Neuhaus in Böhmen, auch meine Post senden Sie, bitte, dorthin. Als ich frei hatte, war ich den ganzen Nachmittag zu Hause und war froh, meine Kleider tragen zu können – hinaus ging ich nicht, es ekelte mir von den Uniformen. Vielleicht können Sie mich einmal besuchen. Sie fahren über Wien K.F.J.B. [Kaiser Franz Josef Bahn] – Wesely-M. – Erschrecken Sie aber nicht über meinen Affenanzug. – Ich möchte mir eine Extrauniform machen lassen – es ist ja lächerlich, mit diesen blauen Blusen und Waschhosen herumzugehen, auch sind meine Schuhe bereits durchmarschiert, würde also unbedingt ein Paar neue brauchen. Wie es so tagelang regnete, da mußte ich immer die ganz durchnäßten Schuhe anhaben und wir exerzieren im strömenden Regen im Wasser. – Schon bevor ich nach Prag gefahren war, ersuchte ich H. B. [2] mir für die ausgesuchten und noch nicht bezahlten Bilder nur einen Teil, nämlich 400 Kronen, und in den drei nächstfolgenden Monaten je 200 Kronen zu schicken, – doch den Herren geht es zu gut, sie wissen von nichts und haben alles – während ich hingegen mich nicht rühren kann; – schäbig immerhin, wenn man mir in der Lage nicht einmal antwortet, wo ich alles opfern muß. Bitte, Herr B., besuchen Sie H. B., es wäre ja sehr dringend, und schreiben Sie mir gleich, was los ist.
Einstweilen herzliche Grüße
Egon Schiele
Anmerkungen
[1] Edith Schiele, geb. Harms (1893–1918).
[2] Heinrich Böhler (1881–1940).
[2] Heinrich Böhler (1881–1940).
Provenienz
Sammlung E. W. Kornfeld, Bern
2009: Albertina, Wien (Schenkung)
Provenienz lt. Nebehay 1979:
Verbleib unbekannt
2009: Albertina, Wien (Schenkung)
Provenienz lt. Nebehay 1979:
Verbleib unbekannt
Erfasst in
Roessler 1921, S. 165-167
Eigentümer*in
Autor*in
Empfänger*in
Erwähnte Person
Bibliografie
-
Abels 1926Ludwig W. Abels: „Egon Schiele als Soldat. Unbekannte Episoden, Briefe und Bilder“, in: Neues Wiener Journal, 10.01.1926, Wien 1926, S. 10
PURL: https://www.egonschiele.at/903