Abels 1926

Ludwig W. Abels: „Egon Schiele als Soldat. Unbekannte Episoden, Briefe und Bilder“, in: Neues Wiener Journal, 10.01.1926, Wien 1926, S. 10
Ueber das leider so kurze Leben und Wirken des Malers Egon Schiele sind wir, da er schon früh auffiel und mit den bekanntesten Wiener Künstlern und Kunstschriftstellern in persönlichem Verkehr stand, ziemlich genau unterrichtet. Namentlich der die hoffnungsvolle Jugend stets förderungsbereite Artur Rößler hat in mehreren Büchern Biographisches, Briefe und allerhand Aufzeichnungen Schieles zusammengestellt. Dennoch gibt es manche unbekannte Episoden in seinem Leben, besonders aus der Kriegszeit; auch interessante Briefe und sogar künstlerische Werke befinden sich im Privatbesitz verborgen, die einer der vielen posthumen Verehrer endlich ans Licht ziehen und vor Zerstörung bewahren sollte!
Die gegenwärtig bei Würthle ausgestellte reichhaltige und hochinteressante Uebersicht über das Werk Egon Schieles, in dem auch gute jedoch zahme Arbeiten aus seiner kurzen Akademiezeit – vor dem bekannten Krach mit Professor Griepenkerl – sich finden, scheint mir für die Veröffentlichung dieser „Geheimdokumente“ der passende Anlaß zu sein. Da heute in- und ausländische Galeriedirektoren und Kunsthändler auf Bilder und Blätter von Schiele Jagd machen und enorme Preise zahlen, wird man mir hoffentlich dankbar sein, wenn ich in selbstloser Weise die Suchenden auf neue Spuren führe; diese meine edle Selbstlosigkeit hat übrigens einen triftigen Grund: ich selbst könnte diese Kunstwerke – eben wegen der empor geschnellten Preise – nicht kaufen. Mögen also andere glücklich werden.
* * *
Vor mir liegt ein Brief in der charakteristischen steilen Künstlerschrift Schieles, oben datiert vom 27. Juni (ohne Jahreszahl): „Sehr geehrter Herr Oberleutnant!“ – ich erlaube mir anzufragen, ob Sie meine von hier vor drei Wochen abgeschickte Mappe erhalten haben. Hochachtungsvoll“ – und darunter in ein Quadrat gestellt, wie auf seinen Bildern, die Unterschrift „Egon“ – darunter „Schiele“ – darunter „1917“. Adressiert ist diese Anfrage an seinen früheren Vorgesetzten „Herrn Oberleutnant G. H., k. u. k. Offiziersstation für Kriegsgefangene, in Mühling bei Wieselburg. N.-Oe.“ – Note Fünfzehnhellermarke mit dem Kopf des Kaisers Franz Josef und auf der Rückseite des Kuverts die Adresse des Absenders: Egon Schiele, Wien, 13. Bezirk, Hietzinger Hauptstraße 101.
Wer ist dieser Offizier, an den Schiele eine Mappe mit Zeichnungen und Blättern in Wassertempera sandte? Der Fall ist nicht ohne Bedeutung. Da der Adressat selbst mir auf mein Ersuchen den Brief überließ, von anderen Briefen, die über verschiedene kühne Projekte sprechen, mir Abschrift zu nehmen gestattete, bin ich in der Lage, diese Kriegsepisode mit allem, was drum und dran hängt, zu erzählen, indem ich gleich hinzufüge, daß Schieles mehrmonatige Dienstzeit im Konzentrationslager Mühling zu den relativen Glücksfällen gehörte.
Im Frühjahr 1917 saß ich eines Nachmittags, von schwerer Krankheit genesen im Café Museum, dem bekannten Treffpunkt der modernen Künstler, als mit elastischen Schritten ein Offizier in schmucker und nicht sehr strapazierter Ulanenuniform eintrat, in der Nähe von mir an einem Fensterpfeiler Platz nahm und Tageszeitungen sowie Kunstzeitschriften bestellte. Trotzdem ich in der einstigen k. u. k. Armee zahlreiche überaus kunsteifrige Herren kannte, vielleicht gerade deshalb, wandte ich mich um, faßte den glattrasierten Ulanenoberleutnant ins Auge, so wie im selben Moment er mich, und erkannte den mir als Waffensammler bekannten Herrn G. H. (sein verstorbener Bruder besaß eine berühmte Kollektion mittelalterlicher Rüstungen und Waffen). Er erzählte, daß er das Oberkommando über das Gefangenenlager M. führe, und fragte im Laufe des Gesprächs: „Sie sind doch in der modernen Kunst bewandert, Herr Doktor, kennen Sie einen Maler Egon Schiele? Noch ein junger Mann, schlank, ein wenig schwächlich. Mir tut der arme Kerl leid.“ Ich klärte ihn
mit allem Eifer über diesen in Militärkreisen unbekannten Maler auf und bat ihn, ihm nach Möglichkeit Erleichterungen im Dienste und eventuell freie Stunden zur Ausübung seiner Kunst zu gewähren. Der Oberleutnant, der ein sehr kunstsinniger Mann und dabei ein guter Kerl ist, versprach mir das und hat sein Wort wacker gehalten.
Als ich ihn einige Monate nach Kriegsende – Schiele war unterdessen, am 31. Oktober 1918, an der Grippe plötzlich gestorben – in Wien traf, lud er mich in seine Wohnung ein, erzählte mir den weiteren Verlauf von Schieles Mühlinger Dienst, und zeigte mir zahlreiche dort entstandene Arbeiten des Künstlers, dem er, wie versprochen, bald vollkommene Freiheit gewährt, ja sogar einen geeigneten Schuppen zum Malen eingeräumt hatte. Es waren das mehrere famos gezeichnete und farbige Bildnisse des – damals zum Rittmeister avancierten – Herrn H., einige Lokalstudien in schielecharakteristischer Art: so hatte er in steiler Ansicht den Korridor der Kommandantur gezeichnet, mit einigen Besen und Wischtüchern in der Ecke. Utensilien, die der arme Künstlersoldat in der ersten Zeit seines Aufenthalts diensteifrig handhaben mußte! Aber einige größere Oelbilder, darunter ein – Aushängeschild, sollen in Mühling zurückgeblieben sein. Rittmeister H. erzählte mir, daß Schiele zuerst furchtbar verschüchtert und heruntergekommen war. Unpraktisch, verträumt, stets mit künstlerischen Projekten beschäftigt, hatte er bei Ausbruch des Krieges versäumt, sich in seinem Bekanntenkreis um Protektion umzuschauen und war als gemeiner Soldat eingezogen, furchtbar roh behandelt und im Viehwaggon nach Böhmen geschafft worden. Von seinen Leiden in der ersten Zeit erzählt Schiele in einem Brief an Herrn Benesch, aus Neuhaus in Böhmen, Juli 1915 (den Rößler einmal veröffentlicht hat): „Ich konnte Ihnen bis heute nicht schreiben,“ heißt es da, „weil ich vielleicht die schwersten vierzehn Tage meines Lebens übertaucht habe. Am 21. Juni, 8 Uhr, mußte ich einrücken, und zwar in ein großes Ausstellungsgebäude in Prag, so wie bei uns die Rotunde; dort wurde einige Tage gewartet, bis alle Einberufenen, zirka zehn- bis zwölftausend Mann, beisammen waren. Wir haben auf Stroh geschlafen und wurden, weil diese Leute die berüchtigten Achtundzwanziger-Nachfolger waren, sehr streng von Soldaten bewacht. Niemand durfte in die Stadt, ich konnte mit Edith (Schieles junge Gattin; er hatte kurz vorher geheiratet!) nur zufällig durch ein Gitter sprechen. Es kamen Herzschlag und verschiedene Ohnmachtsanfälle vor; ich sah, wie ein Soldat einen Mann so stieß, daß dieser vornüber tot zusammenstürzte; ich sah, wie die Tschechen kurzerhand übers Gitter sprangen, um zu entfliehen – sie wurden einfach niedergeschossen.“
Nach einem kurzen Aufenthalt in Neuhaus wird Schiele krank; nach Wien zurückgeschickt, soll er superarbitriert werden, wird dann aber, da er „eine hübsche Handschrift“ hat, nach Mühling als Kanzleischreiber kommandiert. Es gibt dort viel zu tun, die Bücher in Ordnung zu halten und viele Briefe usw. zu schreiben; in Mühling wurden die gefangenen russischen und Balkanoffiziere untergebracht. Bis die eingangs erwähnte günstigere Wendung eintrat. Schiele durfte sich dann Leinwand, Papier, Farben aus Wien kommen lassen, seine junge Gattin durfte ihn nach langer Trennung endlich wieder besuchen, und auch mit Unterkunft und Verpflegung wurde es über Veranlassung des kunstsinnigen Kommandanten bald besser. Unterdessen war auf Veranlassung des Direktors Generals John vom Heeresmuseum das denkwürdige „Kriegspressequartier“ gegründet worden und endlich, kurz vor Kriegsende, auch Schiele dahin versetzt.
Ob sich der schlanke, zarte, feinnervige Mensch bei diesen Strapazen den Todeskeim geholt hat? 1913 war er noch elastisch und voller Pläne. Mit seiner engen Wohnung Hietzinger Hauptstraße 101, hinter der Verbindungsbahn, unzufrieden, hatte er das große Gartenatelier in der Wattmanngasse 6 gemietet, in dem sich heute die Hietzinger Malschule befindet. Der Garten ist feucht, der große Raum muß sehr stark geheizt werden; gerade 1918, kurz nach dem Einziehen, kam ein früher Winter! Und (wie sich die meisten Wiener mit Schauder erinnern werden!) war Heizmaterial kaum zu beschaffen. Die derberen Leute fuhren in die Wälder hinaus, nach Hütteldorf, und schlugen Holz, was sie nur schleppen konnten. Schiele schreibt am 11. Oktober, mitten unter anstrengenden Vorbereitungen zu einer großen Ausstellung, an seinen Schwager Peschka: „1 Uhr 30 Minuten mittags! Ich habe noch immer keine Kohlen. Ihr werdet gewiß einen kleinen Vorrat haben und ersuche Euch daher, der Ueberbringerin ein Quantum, das Ihr entbehren könnt, mitzugeben! Wenn dann Kohlen vom Westbahnhof kommen, kann man ja das abziehen.“ – Dienstag schreibt er: „Es ist wichtig, daß die Kohlen vom Westbahnhof abgeholt werden, und darum bitte ich Dich, diese durch den Fuhrmann holen zu lassen. Kann er heute, längstens morgen darum fahren?“
Sie konnten wohl nicht beschafft werden, die so notwendigen Kohlen. Die junge Frau Edith, die ein Kind unter dem Herzen trägt, wird krank. Die Grippe grassiert fürchterlich. Nach acht Tagen ist sie tot. Egon, selbst erkältet, muß sie warten. Er sitzt am Bett, zeichnet die Sterbende. Ein furchtbar erschütterndes Blatt voll Wahrheit. Es ist in der Oeffentlichkeit nicht bekannt; ich sah es bei Herrn Ehrmann [korrekt: Erdmann], dem Bruder der Frau Schiele, der seither auch starb. (Auch viele schöne Zeichnungen der Geschwister und ihrer Kinder waren dort!) Und dann das Ende:
Herr Ehrmann [Erdmann] läßt den schwer Kranken in die Familienwohnung schaffen, pflegt ihn. Aber am 31. Oktober ist auch Egon tot. – Vielleicht war es ein Glück für ihn?! Der frühe Tod hat ihm wenigstens die spätere Nachkriegsmisere erspart.

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