Beitrag von Arthur Roessler für das „Erinnerungsbuch Egon Schiele“
Albertina, Wien
ESDA ID
2563
Nebehay 1979
Nicht gelistet/Not listed
Bestandsnachweis
Albertina, Wien, Inv. ESA 508/7–11
Datierung
10.1943 (eigenhändig)
Material/Technik
Schwarze Tinte auf Papier
Maße
19 x 15,5 cm (Seite)
Transkription
Nachtrag zu den „Erinnerungen an E. S. von A. R-r.“
Nach einem zugleich erregenden und betrübenden Worterguß
des einen Mädchens und einem kaum zu stillenden Tränenerguß
des anderen, war zwischen beiden das Einverständnis über
E.S. [Egon Schiele] zustande gekommen. Wally hatte gegen die, von Edith
mit virtuoser Beredsamkeit, klug, ja listig vorgebrachten
Argumente keine stichhältigen [!] Gegengründe geltend zu machen
vermocht und sich deshalb wohl oder übel dazu entschlossen,
ungeachtet ihrer „älteren Rechte“, ihre Bereitschaft zum Ver-
zicht auf das gemeinsame Leben mit dem Geliebten zu er-
klären. Als es so weit gekommen war seufzten beide Mäd-
chen tief auf, sahen sich tief in die Augen, die nun bei
beiden feucht glänzten und reichten dann einander zu festem
Druck die Hände. – „Also, abgemacht!“ sagte Edith, wobei
sie weder im Ton noch in der Miene das mindeste Merk-
mal ihrer befriedigten Genugtuung wahrnehmen ließ. –
„Ja, abgemacht!“ bestätigte Wally mit bebender Stimme,
und dann, nach einer Atempause, fügte sie unerwartet
||
festwillig hinzu: „Aber unter einer Bedingung, einer einzigen.
Ich will Egon noch einmal sehen und sprechen; – das letzte
Mal!“ – Für ein Weilchen furchte eine kleine senkrechte Falte
die sonst glatte Stirn Ediths, dann überhuschte ein wunderlicher
Ausdruck, ein Gemisch von Rührung und Mitleid, ihr hübsches
helles Antlitz und sanft antwortete sie: „ Aber gerne liebes
Fräulein! – Wenn sie nicht fürchten, daß Ihnen der Abschied
nach diesem Wiedersehen nicht allzu schwer aufs Herz fällt!“
Wally schüttelte schweigend den Kopf. Und so kam es am
nächsten Tag zum letzten Beisammensein von Egon u. Wally.
Im Café Eichberger, seinem Hietzinger Stammlokal, in dem
E.S. fast täglich während der Dämmerstunde eine Partie
Karambol zu spielen pflegte, fand das Stelldichein statt, zu
dem der Mann mit nicht geringerer Bangnis kam als das
Mädchen. Nach der verlegenen Begrüßung schwiegen zunächst
beide. Von E.S. war man das gewöhnt, aber nicht von
seiner rotblonden „Zwitscherlerche“, wie er Wally oft kosend
genannt hatte. Diesmal sprudelte keine heitere Rede leicht
von ihren gern geküßten Lippen, diese waren vielmehr fest
||
aufeinander gepreßt. Nur ein schwaches schmerzliches Lächeln
umzuckte sie zag, ein Lächeln das die Verlegenheit von E.S.
noch vermehrte. Als dann Wally gar noch das lind duftende
Schnupftüchlein der Handtasche entnahm und ihr gerötetes
Näschen zu schnauben begann, – ein untrügliches Anzeichen
dafür, daß sie gegen aufquellende Tränen ankämpfte, be-
eilte sich E.S. aus der Brusttasche seines Rocks einen Brief-
umschlag hervor zu ziehen und selben Wally mit den gaumig
gesprochenen Worten darzubieten: „Da steht alles drinn!“ –
Verwundert und fragend sah das Mädchen den Mann an, der
sich angelegentlichst damit beschäftigte, den Zucker in der vor
ihm stehenden „Theeschale Melange mit Doppelschlag“ umzurühren.
Sonderbares Tun und Reden von E.S. überraschte Wally zwar
längst nicht mehr, aber daß er diesmal, da beide doch zu einer
letzten Aussprache zusammen gekommen waren, anstatt
lebendiger „guter Worte“ ein Schriftstück gab, mutete sie dann
doch befremdend an. „Wozu das? Warum schreibst Du?
Wir können doch miteinander reden!“ meinte sie. – E.S.
erwiderte: „Lies nur. Du wirst hernach verstehen, warum
ich schrieb. Ich will, daß Du etwas Schriftliches von mir
in Händen hast, – etwas bindendes.“ Und Wally las. –
||
Kurios über die Maßen war, was sie las u. sie wußte
nicht, wie ihr dabei zu Mute war, ob sie laut weinen oder
lachen sollte, denn das, was sie in der zitternden Hand hielt,
war kein sentimentaler Abschiedsbrief eines treulosen Ge-
liebten, sondern ein höchst seltsames Dokument, durch dessen
Wortlaut sich E.S. gegenüber Wally ernsthaft „verpflichtete“
mit der Geliebten a.D. „alljährlich im Sommer eine mehr-
wöchige Erholungsreise zu unternehmen“!!! – „Aber
Egon, wie stellst Du Dir das in Wirklichkeit vor? –
Glaubst du in der Tat, daß Edith das jemals zugeben
würde – – oder daß ich damit einverstanden sein könnte?
Du meinst es sicherlich gut, davon bin ich überzeugt, aber es
ist unmöglich, für mich gänzlich unmöglich! – Denn:
entweder – oder; – entweder ganz oder gar nicht! –
Ich habe verzichtet, ein- für allemal und dabei bleibt
es!“ – „Ja, wenn Du so sprichst, ist eben nichts zu
machen; dann müssen wir halt endgültig Abschied
nehmen. Schade! Denn unmöglich wäre die Idee nicht
gewesen, das darfst Du mir aufs Wort glauben,“ sagte
E.S. resigniert, zündete eine Zigarette an und sah dem
aufkräuselnden Rauch träumerisch nach. – Wally
||
dankte dem augenscheinlich Enttäuschten für seine gute
Absicht. E.S. wehrte ab, dann dankte er dem Mädchen
für all das, was ihre uneigennützige Liebe und treue, stets
hilfsbereite Kameradschaft ihm gegeben. Und dann ging
Wally. Ohne Tränen, ohne Pathos, ohne Sentimentalität,
aber auch ohne Ironie und Skepsis, nur traurig, aber
entschlossen das Leben weiter zu lernen. –
Kurz bevor Wally als Krankenschwester an
die Front fuhr, verabschiedete sie sich von mir. Dabei
erzählte sie mir das vorstehend Berichtete. Bald da-
rauf erhielt ich die Kunde, daß sie in einem Etappen-
Spital gestorben sei, an einer infektiösen Krankheit. –
Oktober 1943
Arthur Roessler
Nach einem zugleich erregenden und betrübenden Worterguß
des einen Mädchens und einem kaum zu stillenden Tränenerguß
des anderen, war zwischen beiden das Einverständnis über
E.S. [Egon Schiele] zustande gekommen. Wally hatte gegen die, von Edith
mit virtuoser Beredsamkeit, klug, ja listig vorgebrachten
Argumente keine stichhältigen [!] Gegengründe geltend zu machen
vermocht und sich deshalb wohl oder übel dazu entschlossen,
ungeachtet ihrer „älteren Rechte“, ihre Bereitschaft zum Ver-
zicht auf das gemeinsame Leben mit dem Geliebten zu er-
klären. Als es so weit gekommen war seufzten beide Mäd-
chen tief auf, sahen sich tief in die Augen, die nun bei
beiden feucht glänzten und reichten dann einander zu festem
Druck die Hände. – „Also, abgemacht!“ sagte Edith, wobei
sie weder im Ton noch in der Miene das mindeste Merk-
mal ihrer befriedigten Genugtuung wahrnehmen ließ. –
„Ja, abgemacht!“ bestätigte Wally mit bebender Stimme,
und dann, nach einer Atempause, fügte sie unerwartet
||
festwillig hinzu: „Aber unter einer Bedingung, einer einzigen.
Ich will Egon noch einmal sehen und sprechen; – das letzte
Mal!“ – Für ein Weilchen furchte eine kleine senkrechte Falte
die sonst glatte Stirn Ediths, dann überhuschte ein wunderlicher
Ausdruck, ein Gemisch von Rührung und Mitleid, ihr hübsches
helles Antlitz und sanft antwortete sie: „ Aber gerne liebes
Fräulein! – Wenn sie nicht fürchten, daß Ihnen der Abschied
nach diesem Wiedersehen nicht allzu schwer aufs Herz fällt!“
Wally schüttelte schweigend den Kopf. Und so kam es am
nächsten Tag zum letzten Beisammensein von Egon u. Wally.
Im Café Eichberger, seinem Hietzinger Stammlokal, in dem
E.S. fast täglich während der Dämmerstunde eine Partie
Karambol zu spielen pflegte, fand das Stelldichein statt, zu
dem der Mann mit nicht geringerer Bangnis kam als das
Mädchen. Nach der verlegenen Begrüßung schwiegen zunächst
beide. Von E.S. war man das gewöhnt, aber nicht von
seiner rotblonden „Zwitscherlerche“, wie er Wally oft kosend
genannt hatte. Diesmal sprudelte keine heitere Rede leicht
von ihren gern geküßten Lippen, diese waren vielmehr fest
||
aufeinander gepreßt. Nur ein schwaches schmerzliches Lächeln
umzuckte sie zag, ein Lächeln das die Verlegenheit von E.S.
noch vermehrte. Als dann Wally gar noch das lind duftende
Schnupftüchlein der Handtasche entnahm und ihr gerötetes
Näschen zu schnauben begann, – ein untrügliches Anzeichen
dafür, daß sie gegen aufquellende Tränen ankämpfte, be-
eilte sich E.S. aus der Brusttasche seines Rocks einen Brief-
umschlag hervor zu ziehen und selben Wally mit den gaumig
gesprochenen Worten darzubieten: „Da steht alles drinn!“ –
Verwundert und fragend sah das Mädchen den Mann an, der
sich angelegentlichst damit beschäftigte, den Zucker in der vor
ihm stehenden „Theeschale Melange mit Doppelschlag“ umzurühren.
Sonderbares Tun und Reden von E.S. überraschte Wally zwar
längst nicht mehr, aber daß er diesmal, da beide doch zu einer
letzten Aussprache zusammen gekommen waren, anstatt
lebendiger „guter Worte“ ein Schriftstück gab, mutete sie dann
doch befremdend an. „Wozu das? Warum schreibst Du?
Wir können doch miteinander reden!“ meinte sie. – E.S.
erwiderte: „Lies nur. Du wirst hernach verstehen, warum
ich schrieb. Ich will, daß Du etwas Schriftliches von mir
in Händen hast, – etwas bindendes.“ Und Wally las. –
||
Kurios über die Maßen war, was sie las u. sie wußte
nicht, wie ihr dabei zu Mute war, ob sie laut weinen oder
lachen sollte, denn das, was sie in der zitternden Hand hielt,
war kein sentimentaler Abschiedsbrief eines treulosen Ge-
liebten, sondern ein höchst seltsames Dokument, durch dessen
Wortlaut sich E.S. gegenüber Wally ernsthaft „verpflichtete“
mit der Geliebten a.D. „alljährlich im Sommer eine mehr-
wöchige Erholungsreise zu unternehmen“!!! – „Aber
Egon, wie stellst Du Dir das in Wirklichkeit vor? –
Glaubst du in der Tat, daß Edith das jemals zugeben
würde – – oder daß ich damit einverstanden sein könnte?
Du meinst es sicherlich gut, davon bin ich überzeugt, aber es
ist unmöglich, für mich gänzlich unmöglich! – Denn:
entweder – oder; – entweder ganz oder gar nicht! –
Ich habe verzichtet, ein- für allemal und dabei bleibt
es!“ – „Ja, wenn Du so sprichst, ist eben nichts zu
machen; dann müssen wir halt endgültig Abschied
nehmen. Schade! Denn unmöglich wäre die Idee nicht
gewesen, das darfst Du mir aufs Wort glauben,“ sagte
E.S. resigniert, zündete eine Zigarette an und sah dem
aufkräuselnden Rauch träumerisch nach. – Wally
||
dankte dem augenscheinlich Enttäuschten für seine gute
Absicht. E.S. wehrte ab, dann dankte er dem Mädchen
für all das, was ihre uneigennützige Liebe und treue, stets
hilfsbereite Kameradschaft ihm gegeben. Und dann ging
Wally. Ohne Tränen, ohne Pathos, ohne Sentimentalität,
aber auch ohne Ironie und Skepsis, nur traurig, aber
entschlossen das Leben weiter zu lernen. –
Kurz bevor Wally als Krankenschwester an
die Front fuhr, verabschiedete sie sich von mir. Dabei
erzählte sie mir das vorstehend Berichtete. Bald da-
rauf erhielt ich die Kunde, daß sie in einem Etappen-
Spital gestorben sei, an einer infektiösen Krankheit. –
Oktober 1943
Arthur Roessler
Eigentümer*in
Autor*in
Erwähnte Person
Abbildungsnachweis
Albertina, Wien
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