Roessler 1917

Arthur Roessler: “Die Kunst in der Kriegsausstellung”, in: Arbeiter Zeitung, 31st May 1917, pp. 6–7
Einen Freund habe ich, der mag weder die geschwätzigen noch die allzu schweigsamen Menschen leiden. Er mißtraut beiden Arten, hält sie für seelisch und geistig nicht ganz gesund. Von den einen hat er den Eindruck, daß sie sich unkeusch entblößen und eine feile Schlichtheit aufdecken, von den anderen hegt er die Meinung, daß sie Übles verbergen, das auf dem dunklen Grund ihres Wesens in Zersetzung gärt. Aber er fühlt sich jenen zugetan, die sich ohne Ängstlichkeit oder Eigensucht und ohne den Hochmut der eingebildeten Überlegenheit mitzuteilen vermögen. Da er diese von ihm geschätzte Tugend in mir zu finden glaubt, begleitet er mich gern in Kunstausstellungen, wenn er dazu Zeit hat, weil er an den bei solcher Gelegenheit sich aus dem Zwiegespräch ungezwungen ergebenden Äußerungen und Urteilen seine besondere Freude hat. Zu kurzem Urlaub von der Front hier weilend, ging er auch diesmal mit mir, begierig zu erfahren, ob dem starken Erleben der Wirklichkeit, das ihm im Felde geworden war, ein gleich starkes Erleben der Kunst die Waage halten werde.
Warum ich das erzähle? Weil ich der Meinung bin, daß es wichtig ist zu wissen, wie die Kunst auf den nach Gutem und Schönem hungernden Menschen wirkt, der vom mörderischen Kampfesfeld kommt; denn mehr als für jeden anderen muß das Kunstgeschaffene gegenwärtig für den Krieger Geltung haben. Weil ich nun dieser Meinung bin und der Fall meines Freundes ein typischer ist, berichte ich darüber, wie die Kunstabteilung der Kriegsausstellung von ihm empfunden wurde, was wir darüber redeten.
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Schließlich findet man sich aber doch genötigt, für manchen sehr ungebärdigen Maler einzutreten, weil in der Kunst eben auch nicht das „Wer“, nur das „Wie“ gilt. Ich sagte dies meinem Freunde unter Hinweis auf Egon Schiele, von dem zwanzig Bildniszeichnungen und ein großes Oelgemälde „Heldengräber–Auferstehung“, bezeichnet als „Fragment für ein Mausoleum“, im dritten Räume ausgestellt sind. Er entgegnete: „Ich weiß, daß Sie von Schiele als Künstler eine gute Meinung haben und sich von seinem ersten öffentlichen Auftreten an als einziger Kritiker in Wien für ihn einsetzten. Ich bestreite auch gar nicht, daß er ein großes, ein wirklich ungewöhnliches Talent ist; aber ich wollte, er wäre aufrichtiger, als er zu sein scheint. Daß er seine Modelle karikiert, das ist sein Künstlerrecht; aber er karikiert nicht das jeweilige Modell, sondern einen ganz anderen, der offenbar einen Don Quichotte-Charakter hat. Hier ist beispielsweise die Bildniszeichnung eines Menschen, den ich persönlich kenne; er hat sich in der Zeichnung in einen Galeerensträfling gewandelt, obwohl er in Wirklichkeit durchaus harmlos ist. Wär’ er ein Gigerl, könnte das „witzig“ wirken: es ist banal, einen Geizhals raubvogelartig darzustellen – also travestiert man ihn als sanftes Täubchen. Ihn etwa als Haushahn oder Ente zu schildern, wirkt jedoch abgeschmackt, weil jede Beziehung fehlt. Was sollen und wollen die grauslichen Krallen an den Händen, die Schiele mit der Hartnäckigkeit eines Besessenen unterschiedslos all seinen Figuren gibt? Das ist bewußte Fälschung der Tatsachen. – Ich sehe, wie es um Ihren Mund zuckt, lieber Freund, und ich weiß, daß es für Sie ein Leichtes ist, besagte Pratzen kritisch reinzuwaschen. Sie könnten etwa sagen: sie wollen nicht als Körperteil, sondern als „Form“ gewertet sein, als Form wirken sie gefällig, haben sie genau die richtige Länge und Größe, um die Kontrastwirkung zu einer entgegengesetzten Gegenstandsform auszulösen, sie sind also im „höheren“ künstlerischen Sinne „richtig“, mögen in Wirklichkeit die Proportionen immerhin andere sein und so fort. Ja, mein Lieber, nach diesem Evangelium absolvieren sich alle Sünden wider die Natur von selbst. Nun liegt, wie ich zugeben will, der Fall Schiele etwas anders: es gibt keine Halbmeterhände, aber es gibt Galeerensträflinge; man denke sich bei dieser und jener Zeichnung den Namen des Dargestellten weg, sehe vom Persönlichen ab, und es stimmt dann so ziemlich. Ich habe auch nur von einem Charakterfehler gesprochen und gesagt, daß ich mir diesen ungewöhnlich reich begabten Künstler „aufrichtiger“ wünsche, weil ich glaube, daß es in der Malerei ohne innigeren Zusammenhang mit der Natur nicht geht, mag man sie zu verbessern suchen oder durch geniale Uebertreibung verhöhnen.“
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A. R-r.

Exhibitions

  • Kriegsausstellung
    Kaisergarten, k. u. k. Prater, Vienna, 19th May–21st Oct. 1917