Gütersloh 1912

Albert Paris Gütersloh: “Feuilleton. ‘Neukunst.’”, in: Pester Lloyd (Morgenblatt), 4th Jan. 1912, pp. 1–3
Den südlichsten Deutschen trifft ein Gefühl, wie ein Pfeil, so oft er nach Osten denkt.
Er ist von jeher geneigt gewesen, den schon allzu festen und durchsichtigen Begriffe von Europäer untreu zu werden, das Sichere seiner Staaten gegen nomadischere Gebilde einzutauschen, und gegen die aufdringlich legitime Deszendenz seiner Kunst, gegen die hereditäre Last so vieler und glänzender Vorväter mit einem Schritte aus dem Schatten des Stammbaues zu revoltieren.
Das Wissen um eine Genealogie verrät sich in einem derzeitigen Vater stets als eine Schablone für die Zukunft, und nur in der physischen Paternität korrigiert der Ehebruch den Willen zum Klassiker.
Aber niemand vermag der Kristallisation von Völkern oder geistiger Rassen Einhalt zu tun.
Nur der Apostat verficht das Prinzip einer unklaren Einheit und fühlt sich vom Urquell seines zeitlich gewordenen Blutes und von der Urheimat magisch angezogen, sobald seine Rasse anfängt, sich eines eigenen Zuchtideals zu erkühnen. Er wird kühl von einem Sterben in Schönheit wegtreten, um sich als erstes Atom einem unverbrauchten Lebenswillen anzuwachsen, das Schicksal der Griechen vor Augen, die zu Stein wurden, als keiner der Ihren den Mut zum Abfall hatte.
Der Westen scheint nun in den verklärenden Zustand des imaginierten Griechentums getreten zu sein, und jene Rekapitulation der Werte vorzunehmen, die als zweite Antike künftigen Philologen dediziert bleibe.
Der scharfe Glanz endgültigster Formen der Kultur und der Künste, so über Paris erschien und die Abendländer mit Gold verschattet, wölbt sich als apotheotischer Schluß über das ausgespielte Stück latinischer Energie.
Mit den kostbaren Objekten eines raffinierten Komforts will der Europäer späten Zweiflern seine historische Existenz beweisen, und, inbrünstig verliebt in die Auferstehung der Hellenen, die posthume Wirkung von Renaissance auszuüben.
Wir aber wehren uns gegen die testamentarisch beschlossene Vergewaltigung der Zeiten unserer Urenkel, wir wollen kein künstliches Pompeji, dessen Inszenierung wir eben beiwohnen, noch können wir Gegenstände anerkennen, die im Hinblick auf eine Ausgrabung geschaffen werden. Wir sehen im heute beinahe allmächtigen Betriebe des artistisch ausgearteten Kapitalismus nur die Absicht des sterbenden Europäers, ein möglichst wertvolles Erbe zu hinterlassen, betätigt, und eine Täuschung über den wahren Zustand unserer Kultur versucht.
Insofern, nach Gesetzen der Chemie, nur das in die Nachwelt gelangen wird, was echt, kostbar, Stein oder Metall ist, die Surrogate aber, womit die Armut und das Genie gezwungen sind zu arbeiten, der Verwesung verfallen, wird es den Epigonen schwer gelingen, ein wahres Bild unserer ökonomischen und artistischen Phänomene zu gewinnen; und sobald es erwiesen scheint, daß nur die Verklärungsperioden in die Geschichte kommen, wird museal gewordenen Kultgegenständen prosaisch-snobistischen Lebens der zweifelhaften Ruhm zufallen, für ein erlogenes Schlaraffenland zu zeugen, das ein zukünftiges Weimar „mit der Seele suchen“ wird.
Als unsere Maler, intellektuell orientiert, das zu malen begannen, was mit neuerer Fundierung in der Ausstellung des Müveszház vor das ungarische Auge tritt, standen sie in einem ironisch erregten Frühlingswind und hatten mehr einen Feind entdeckt, gegen den, als einen Freund, für den sie schufen.
Der polemische Charakter jeder Neukunst erweist sich dadurch, daß sie ihrem Ernste die Farce beimischt, und dies tut, nicht weil sie die tragikomische Fassung liebt, sondern aus Furcht vor dem banalen Ernste eines Publikums, das in dem Augenblick auf „Qualität“ zu sehen beginnt, als es den Anlaß eines barbarischen Willens nicht mehr versteht.
Es nimmt die Partei der „Form“, und nichts wird dem Artisten widerwärtiger sein denn das Fraternisieren des Lebens mit dem innersten Problem aller Künste.
So ist der Witz die Rettung vor einer Zustimmung, und weil sich jeder mehr der Komik verfallen fühlt als dem Tragischen, vermag sich keiner als den aktuellen Anlaß zu brüsten, und die Polemik ist gut, sobald sie sich gegen jeden wenden kann, ohne aufzuhören, Porträt zu sein.
Egon Schieles Tafeln dienen in Weltbezirken dazu, die philiströsen Verteidiger der Form abzustoßen.
Das Fehlen dessen, was Augen aus Subtilitäten alter Flämen oder aus der mineralischen Farbenreizen tizianischer Zonen als Form gewonnen haben, ist oft ein absichtliches Minus jener Künstler, die antithetisch schaffen, die von der Vision nicht durch ihren kongenialen Ausdruck ablenken wollen.
Denn die wissenschaftlich aufgeklärte Menschheit sucht sich vor dem Eindringen des Mystischen durch „l’art pour l’art“ zu schützen. Und nichts macht mißtrauischer gegen diese These und hindert mehr ihre Gefolgschaft als die Tatsache, daß sie im Lager des Bourgeois entstanden ist, als Danaergeschenk entworfen wurde, und die Wirkungen des Künstlers, die den fortgesetzten Einbruch des Chaos in das Nochnichtetwas darstellen, paralysieren soll.
Die interessante Anklage weiter auszuführen, hindert der karge, mir gegönnte Raum und die vorläufig wichtigere Aufgabe, meine Freunde den Beschauern vorzustellen.
Ich verweise kurz auf meine kleine Monographie über Egon Schiele*) [* Egon Schiele, Brüder Rosenbaum Verlag, Wien.] und wende mich vor allem zu Anton Faistauer, dem absoluten Maler dieses Kreises, der zum ersten Male sein beinahe ganzes Oeuvre vor ein Publikum bringt.
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  • A Neukunst Wien 1912. Vendégművészeinek Kiállítása
    Művészház, Budapest, 6th–28th Jan. 1912