Strzygowski 1909

Josef Strzygowski: “Die Neukunst-Füchse”, in: Die Zeit, 1st Dec. 1909, pp. 1–2
Der abgelaufene November hat eine Masse von Kunstausstellungen gebracht. Man fühlt sich gedrängt, Ueberschau zu halten, bevor es weitergeht. Der starke Eindruck einer bahnbrechenden Tat hat sich nirgends eingestellt. Es handelte sich mehr um Rückblicke und um den Durchschnitt. Auch als Ganzes wird keine der Ausstellungen im Gedächtnis haften bleiben, sie sind alle mehr oder weniger rasch zusammengehängt worden. Engelhart in der Sezession hat noch am ehesten auf Einheit in der Gesamtwirkung hingearbeitet und schon in der Ausstattung seines Kataloges gezeigt, wie ernst es ihm war, eine gediegene Vorführung zu bieten. Aber eine ausgesprochen individuelle Raumstimmung hatte auch diese Vorführung nicht, obwohl sie in einem für alle Wandlungen vorgesehenen Hause veranstaltet war. (Ueberdies blieb der Text des Kataloges ohne jede Durcharbeitung.) Busch im Hagenbund stellte sich als eine rein geschäftliche Veranstaltung dar, die Sammlung war schon auf ihrem Wege durch Deutschland gründlich geplündert worden. Immerhin boten die Persönlichkeit des Meisters und die Raumeinstellung des Anziehenden genug. Die übrigen Einzelausstellungen mußten unter weniger günstigen Vorbedingungen an die Oeffenlichkeit treten. Die Kunsthandlungen ringen durchweg nicht so sehr mit dem Raum- als dem Lichtmangel, Toulouse-Lautrec bei Miethke, Tina Blau bei Arnot. Corinth und Frau Kalmar bei Keller litten darunter. Das Künstlerhaus bot seine besseren Säle im ersten Stock den Gedächtnisausstellungen von Groll und Juch dar. Eine Gelegenheit, günstige Räume im größten Stil zu schaffen, hatte das Oesterreichische Museum. Ich möchte wissen, wem in dem mit der Ausstellung österreichischer Kunstgewerbe amtlich eröffneten Innenhof mit umlaufenden Galerien und lichtarmen Seitenräumen wohl geworden ist.
Der eigentliche Kunstpalast, das Künstlerhaus, trägt eine so reiche Sündenlast und paßt so gar nicht mehr in die Zeit, daß die darin ausgestellten Kunstwerke von vornherein dem Vorurteil ausgesetzt sind. Freilich in den Vereinigungen, die vorwiegend auf die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder ausgehen, gilt das Künstlerhaus als Wertungsstelle. „Der hat im Künstlerhaus ausgestellt,“ will in diesen Kreisen sagen: „Du mußt nicht glauben, bei uns nur Zurückgewiesene und Anfänger zu finden.“ Auf dieser Wage wird mit Schule, Prüfung, Medaille und dergleichen gemessen, da sind die „akademischen“ Maler und Bildhauer zu Hause. An solchen Orten zeigen sich die Universalgenies, die in allen Qualitäten Tadelloses leisten, streng an der Natur festhalten, gegenständlich nicht herum geheimnissen, in Linie, Farbe, Licht und Schatten schön bei der von den anerkannten Meistern aufgestellten Regel bleiben und den seelischen Gehalt von den Lippen des Publikums nehmen. Die Ausstellungen der so Gewerteten verlangen vom Kritiker, daß er womöglich auf die materielle Lage des einzelnen, dessen Lernen so viel gekostet hat, Rücksicht nimmt. Die eigentlichen Talente dieser Gruppe bildeten im November die breite Masse derer, die in den Verkaufsausstellungen anzogen. Die Landschaft stand im Vordergrunde, die Wunder der Sonne und Farbe an sich oder in leicht verständlichen Stimmungen gesehen, sind im Künstlerhause selbst, dann im Albrecht Dürer-Verein und dem Oesterreichischen Künstlerbund das Um und Auf des Erfreulichen gewesen. Auf die Dauer wird man dieser Schönheiten müde und möchte gern auch einmal etwas erleben, das nicht gerade dem Alltag entspricht. Man möchte aus dem November-Geplänkel herauskommen in den eigentlichen heißen Kampf, den die moderne Kunst auf allen Linien führt. Bisher war davon in den Veranstaltungen der Wiener Künstler nichts zu spüren.
Nun aber wird es anders. Ein Rudel junger Füchse springt keck aus dem Plan. Einige von ihnen sind aus der Akademie herausgeworfen worden oder selbst gegangen, andere fangen erst zu studieren an oder sind in höheren Jahrgängen – also eigentlich alles Leute, die lieber mit dem Lernen als mit dem Ausstellen beginnen sollten. Was will man? Für diese Jungen ist die Kunst das Mittel, mit dem sie ihr Sehnen in die Welt hinausschreien, das Gefäß, mit dem sie ihren Durst nach Leben und Liebe stillen. Die Natur, wie sie wirklich ist, interessiert sie gar nicht, sie tragen in alles ihr heißes, zum Zerspringen volles Herz hinein. Ihre Kunst – das sind sie selbst, ihr seelischer Gehalt in voller Nacktheit. Ich weiß nicht, was das große Publikum mit diesen Bekenntnissen anfangen wird. Ein homerisches Gelächter, das dürfte die Antwort der meisten sein.
Mir blieben die Stunden unvergesslich, die ich im Kreise dieser mehr als ernst dreinblickenden Jünglinge zubrachte, in denen jeder einzelne, dankbar für das Interesse, sich aussprach über das, was er mit seinen Schöpfungen gewollt habe. Da begannen sich diese krassen Verzerrungen zu beleben und stammelten eine Sprache, die mir mehr sagte, als alles das, was ich in der Unzahl der Novemberschaustellungen gesehen hatte. Ich nahm teil an dem Fest, das diese Ringer nach Ausdruck und innerlicher Wahrheit hergerichtet hatten, und wünschte ihnen einen Großen, der aus ihren noch tief in der unschönen Erde steckenden Keimen Stamm und Blätter wachsen ließe, damit sich daraus mit der Zeit die Blüte einer Neukunst entwickeln könnte. Hier in Wien lebt einer, der vielleicht die künstlerische Kraft zur Größe hat, aber seit Jahren in der Entwicklung stehen geblieben ist, Klimt. Er ist auch zu derb und unwirsch für einen Pfleger zarter, jugendlicher Triebe: Daß er der „Neukunstgruppe“ nahesteht, belegt nicht nur die Wahl der Ausstellungsräume im Salon Pisko neben der „Kunstschau“: einige von den Füchsen haben auch bereits in der Kunstschau ausgestellt. Außerdem sind die jungen Leute auch zweifellos Sprossen der Saat, die Klimt ausgestreut hat, aber zarter und innerlicher. Sie teilen mit dem Meister auch die Freude am charakteristisch Häßlichen und Degenerierten, suchen sich aus dieser Art Natur die Gestalten heraus, mit denen als Werkzeug sie ihr Ausdrucksbedürfnis in Form umsetzen.
Da ist einer von ihnen, Schiele, der sucht in dem Rückenakt eines Jünglings die aufsteigende Sinnlichkeit wiederzugeben: symbolische Beigaben helfen nach – scheußlich. Nicht minder Mitgefühl erregend ist es, wenn man den Autor wie im Traum von dem Gehalt eines Weibes reden hört, das sich als Gegenstück zu dem Jüngling entpuppt. Ein seltsamer Kontrast: Schiele selbst ist ein frischer Bursche mit roten Wangen und sympathischen Poetenaugen. Ihm haftet keine Spur jener Verkommenheit an, die er zum Beispiel in der mit brechendem Auge rücklings am Boden liegenden Gestalt eines Siechen malt. Und so sind sie alle. Tüchtige, ernste Anfänger, die etwas wollen und suchen. Faistauer bringt eine Taufe Christi, in der das schwarze Haar des Johannes gegen das Rot des wie aus Holz geschnittenen Christus steht und den ganzen Zusammenklang der Farben bestimmt. Willersdorfer stellt plastisch den Leib einer Frau dar, die wie im Schlaf sich zum Kusse reckt. Pollak bringt Reliefs, in denen sich seltsame Ornamente um mimisch stilisierte Gesichter legen: er geht von Klimt aus, wie ein anderer von Hodler, ein dritter von Cezanne, so Peschka in seinem Erntebild. Thom komponiert rhythmische Phantasien, der völlig primitive Paris von Gütersloh auffallend dekorativ in Schwarz-Weiß gehaltene Szenen, Hilde Exner bringt vielversprechende Radierungen usw. Ich hätte lieber gar keine Namen genannt. Wenn die Füchse mir alle zusammen einen recht großen Mißerfolg hätten, das wäre ihnen gesünder, als dass sie das Publikum verwöhnt und verdirbt. Ihnen allen tut tüchtige Arbeit um das liebe Brot not, damit sie fürs Leben brauchbar werden. So wie sie jetzt sind, kann der Staat kaum etwas mit ihnen anfangen.
Diese Handvoll junger Leute, die sich zur „Neukunstgruppe“ zusammengeschlossen haben, fängt das Studium der bildenden Kunst ganz gegen allen akademischen Brauch nicht dabei an, Gegenstände zu komponieren, Akte richtig zu zeichnen, die Landschaft in ihrem organischen Aufbau zu erfassen oder die aus der Erfahrung zu einer gewissen Gesetzmäßigkeit durchgedrungenen Probleme der Form zu erfassen, für sie ist die Kunst zunächst und vor allem Ausdruck, und zwar in so elementarer Subjektivität, daß man sie selbst kennen, in ihr Empfinden eingedrungen sein muß, um ihre Werke zu verstehen. Die Neukunstgruppe ist die unmittelbare Parallele der literarisch-musikalischen Ueberbrettlkunst, wo auch nur der persönliche und sehr intime Kontakt das meiste verständlich macht. Ich möchte den jungen, blühenden Künstlern nicht wünschen, daß sie sich dem Publikum so ausliefern, wie ihre Kollegen in den verschiedenen Nachtlokalen. Ich kann ihnen nur raten, das nachzuarbeiten, was ihnen fehlt. Gerade ihnen wird die Akademie am wenigsten gefährlich werden. Das, was dort verlangt wird, sollten sie spielend leisten, deshalb können sie außerhalb der Akademie erst recht sie selbst bleiben. Was sie haben, oder besser gesagt, was in ihnen drängt und brandet, das kann ohnehin keine Akademie der Welt geben, darin muß jeder sein eigener Erzieher sein, da bringen Welt, Leben und der ernste Wille zum Rechten die Reife. Das Nachbeten von Gestalt und Technik eines Klimt, Hodler, Cezanne u. a. tut es auch nicht, sondern lediglich die eigenen auf die Natur gerichteten Augen. Wenn ich das Herz voll habe, so besitze ich ein Steuer, das mich mit der Zeit gewiß aus der verwirrenden Menge der Erscheinungen die Form herausfinden läßt, die meinem Ausdrucksbedürfnis entsprechend ist. Und wenn ich die Hand übe und scharf, ohne direkt nachzuahmen, beobachte, wie es die anderen technisch machen, dann muß ich, wenn ich mir nur selbst treu bleibe, mit der Zeit im Handwerk mein eigener Herr werden. Ich verfalle in einen Predigerton. Mein Gott, die jungen Leute liegen mir am Herzen. Ich möchte, daß das Publikum sich nicht nur an ihnen amüsiert, sondern manches ernst nimmt und der „Neukunstgruppe“ mit Rat und Tat vorwärts hilft.

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Exhibitions

  • Neukunstgruppe
    Galerie Pisko, Vienna, 1st–31st Dec. 1909