Brief von Karl Otten an Egon Schiele
Albertina, Wien
ESDA ID
821
Nebehay 1979
722, mit Abb., nicht vollst. transkribiert/with illustration, not fully transcribed
Bestandsnachweis
Albertina, Wien, Inv. ESA 146
Ort
Tübingen
Datierung
13.12.1914–14.12.1914 (inhaltlich)
Material/Technik
Schwarze Tinte auf Papier
Maße
20,8 x 16,4 cm (Seite)
Transkription
Tübingen, 13/14 XII. 14
Sehr verehrter Herr Schiele!
Von Zeit zu Zeit klaube ich
Ihren Brief aus der Schube [Schublade] und
delektierte mich – ich war so froh über
Ihr zuerkennendes mitfühlen. Ich
glaube nicht, dass Sie sich vorstellen
können was das heisst aus dem geord-
neten Kreisen freier Gedanken und
Beziehungen eingekastelt zu werden –
eingemauert in 3:6 den beton [!] zu sehen.
Draussen Sommer – Herbst – Winter
Schicksal und Krieg – Gesang der
Soldaten – Musik von Begräbnissen –
Siegesläuten und Pöllerschiessen
Kinder singen – hier drinnen aber
||
Vakuum 0.0 – ohne Endziel ohne
Vernunftgründe! man frisst sich
selbst mit haut und haar und
speit sich wieder hin und ein
Ekel ohne Grenzen. „Denken Sie
an die armen Soldaten“ bekommt man
zu hören. Ich leide ja nur unter
mir selber – weil ich die Verbindung
zwischen meinem früheren und jetzigen
Zustand nicht finde. Ich suche
nach Gründen um ihn vor mir zu
rechtfertigen ich bin viel zu selb-
ständig [!], um zu sagen die Behörde weiss
es. Ich will die Behörde sein.
||
Aber das hilft nichts – weder Worte
noch Briefe noch Freunde. Der
Trost es wird schon noch anders
kommen bleibt mir versagt. Ich
will eben nicht eher als bis ich rein
und klar sehe – weshalb.
Freund Roessler [1] schrieb mir, dass Sie nach
Frieden Indien sehn werden – mein
Traum seit Jahrzehnten. Aber ich
komme noch hin – sicherlich.
Wer und was ist eigentlich Hans Flesch
von Brun[n]ingen? Seine Aktions-
stücke gefallen mir – ich möchte ihm
schreiben – weiss aber keine Adresse. Gehört
er zur Genossenschaft Ehrenstein-Tubutsch?
manches erinnerte mich daran. Nur ist
||
er jugendlicher und mehr Roman-
tiker was mir sehr zusagt besonders
der Schluss seiner Gegenspieler – der
narr [!].
Seit einigen Tagen habe ich eine
Fahrradlaterne, sodass ich des Abends
etwas arbeiten kann – ich zeichne,
dichte – schneide Linoleum – schnitze
Götzen und Weibsbilder – bunt durch-
einander – ein Tohuwabohu von Kraft
und Einfalt.
Schreiben Sie mal Antwort, wenn
Sie Zeit haben – ich lechze nach
Leben.
Alles Gute und Grüsse
Ihr aufrichtiger
Karl Otten.
Sehr verehrter Herr Schiele!
Von Zeit zu Zeit klaube ich
Ihren Brief aus der Schube [Schublade] und
delektierte mich – ich war so froh über
Ihr zuerkennendes mitfühlen. Ich
glaube nicht, dass Sie sich vorstellen
können was das heisst aus dem geord-
neten Kreisen freier Gedanken und
Beziehungen eingekastelt zu werden –
eingemauert in 3:6 den beton [!] zu sehen.
Draussen Sommer – Herbst – Winter
Schicksal und Krieg – Gesang der
Soldaten – Musik von Begräbnissen –
Siegesläuten und Pöllerschiessen
Kinder singen – hier drinnen aber
||
Vakuum 0.0 – ohne Endziel ohne
Vernunftgründe! man frisst sich
selbst mit haut und haar und
speit sich wieder hin und ein
Ekel ohne Grenzen. „Denken Sie
an die armen Soldaten“ bekommt man
zu hören. Ich leide ja nur unter
mir selber – weil ich die Verbindung
zwischen meinem früheren und jetzigen
Zustand nicht finde. Ich suche
nach Gründen um ihn vor mir zu
rechtfertigen ich bin viel zu selb-
ständig [!], um zu sagen die Behörde weiss
es. Ich will die Behörde sein.
||
Aber das hilft nichts – weder Worte
noch Briefe noch Freunde. Der
Trost es wird schon noch anders
kommen bleibt mir versagt. Ich
will eben nicht eher als bis ich rein
und klar sehe – weshalb.
Freund Roessler [1] schrieb mir, dass Sie nach
Frieden Indien sehn werden – mein
Traum seit Jahrzehnten. Aber ich
komme noch hin – sicherlich.
Wer und was ist eigentlich Hans Flesch
von Brun[n]ingen? Seine Aktions-
stücke gefallen mir – ich möchte ihm
schreiben – weiss aber keine Adresse. Gehört
er zur Genossenschaft Ehrenstein-Tubutsch?
manches erinnerte mich daran. Nur ist
||
er jugendlicher und mehr Roman-
tiker was mir sehr zusagt besonders
der Schluss seiner Gegenspieler – der
narr [!].
Seit einigen Tagen habe ich eine
Fahrradlaterne, sodass ich des Abends
etwas arbeiten kann – ich zeichne,
dichte – schneide Linoleum – schnitze
Götzen und Weibsbilder – bunt durch-
einander – ein Tohuwabohu von Kraft
und Einfalt.
Schreiben Sie mal Antwort, wenn
Sie Zeit haben – ich lechze nach
Leben.
Alles Gute und Grüsse
Ihr aufrichtiger
Karl Otten.
Anmerkungen
[1] Arthur Roessler, Schriftsteller (1877–1955).
Provenienz
Arthur Roessler, Wien
1956, 1963, 1969: Wienbibliothek im Rathaus, Wien (Nachlass)
1956, 1963, 1969: Wienbibliothek im Rathaus, Wien (Nachlass)
Eigentümer*in
Autor*in
Empfänger*in
Erwähnte Person
Erwähnte Institution
Abbildungsnachweis
Albertina, Wien
PURL: https://www.egonschiele.at/821