Gedicht von Egon Schiele: „Skizze zu einem Selbstbildnis“
ESDA ID
291
Nebehay 1979
155
Bestandsnachweis
Verbleib unbekannt
Datierung
07.1910 (inhaltlich)
Material/Technik
Bleistift auf Papier
Transkription
Skizze zu einem Selbstbildnis

In mir fließt altes deutsches Blut und oft spür’ ich der Vorfahren Wesen in mir. Ein Urenkel des Justizrates Friedrich Karl Schiele, ersten Bürgermeisters von Bernburg im Herzogtum Anhalt,
wurde ich am 12. Juni 1890 in Tulln an der Donau durch einen Wiener als Vater [1] aus einer Krummauerin als Mutter [2] geboren. Die bildhaft nachwirkenden Eindrücke der Kindheitszeit empfing ich von ebenen Ländern mit Frühlingsalleen und tobenden Stürmen. Es war mir in jenen ersten Tagen, als hörte und roch ich schon die Wunderblumen,
die sprachlosen Gärten,
die Vögel, in deren blanken Augen ich mich rosa gespiegelt sah.
Oft weinte ich mit halben Augen als es Herbst war. Wenn es Lenz war, träumte ich von der allgemeinen Musik des Lebens,
alsdann freute ich mich über den herrlichen Sommer und lachte, als ich in seinem Prangen mir selbst den weißen Winter malte.
Bis dahin lebte ich in Freude, in wechselnd heiterer und wehmütiger Freude,
dann begannen die Mußzeiten und die leblosen Schulen Volksschule in Tulln, Realgymnasium in Klosterneuburg.
Ich kam in schier endlos und tot scheinende Städte und betrauerte mich.
In dieser Zeit erlebte ich das Sterben meines Vaters.
Meine rohen Lehrer waren mir stets Feinde. Sie – und andere – verstanden mich nicht. Die höchste Empfindung ist Religion und Kunst. Natur ist Zweck; aber dort ist Gott, und ich empfinde ihn stark, sehr stark, am stärksten. Ich glaube, daß es keine „moderne" Kunst gibt; es gibt nur eine Kunst, und die ist immerwährend.
Anmerkungen
[1] Adolf Schiele (1851–1905).
[2] Marie Schiele, geb. Soukup (1862–1935).
Provenienz
Provenienz lt. Nebehay 1979:
Verbleib unbekannt, als Quelle wird Roessler 1921, S. 18-19 angegeben.
Erfasst in
Roessler 1921, S. 18/19; Nebehay 1987, S. 62/63; Karpfen 1921, S.7; Wiener Bibl. Ges. 1977, S. 13
PURL: https://www.egonschiele.at/291