Seligmann 1915

Adalbert Franz Seligmann: „Theater- und Kunstnachrichten. Kunstausstellungen“, in: Neue Freie Presse, 08.01.1915, S. 15
Der Kunstsalon Arnot, Kärntnerring 15 – ja nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bildergeschäft im erweiterten Teile der Kärntnerstraße! – bringt nun schon die zweite Ausstellung moderner Kunst, ohne sich durch das Lodern und Prasseln des Weltbrandes stören zu lassen. „Cum fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae!“ – Diesmal ist es Egon Schiele, über den wir schon öfter zu sprechen Gelegenheit hatten und der durch eine große Kollektion von zum Teile in ansehnlichen Dimensionen gehaltenen Malereien und Zeichnungen das Urteil bestätigt, das wir früher über ihn abgegeben haben. Er ist unter den extrem Modernen weitaus das stärkste Talent und der stärkste Könner; als Zeichner oft geradezu meisterhaft, in der Koloristik von einem höchst aparten Geschmack, desgleichen in der technischen Behandlung, dem Traktament der Oberfläche, dem Austrag der Farbe. Er ist auch eine ausgesprochene Individualität – leider eine allzu ausgesprochene. Seine Subjektivität führt zur Manier im bösen Sinne; Charakteristik wird zur Grimasse, und das Ganze hat einen so starken pathologischen Einschlag, daß es für den Psychoanalytiker fast wertvoller wird als für den Kunstfreund – wenn nicht der Kunstfreund gleichzeitig Psychoanalytiker ist, wie denn das wohl zu Zeiten kommen mag, namentlich zu den jetzigen Zeiten. Man wird also diese „Bekenntnisse“ mit zwiespältigen Gefühlen betrachten; in der Bewunderung über die ganz seltenen künstlerischen Qualitäten mischt sich ein Grauen vor diesem aus den dunkelsten und geheimsten Gründen einer fiebernden Seele hervorgewühlten Schlamm. ... Unzucht und Verwesung, rein abdestilliert, ohne jeden störenden Beigeschmack, sind vielleicht noch nie mit so echten künstlerischen Mitteln, man könnte sagen, so klassisch gemalt worden.
A. F. S.

Ausstellungen

  • Kollektiv-Ausstellung Egon Schiele
    Galerie Arnot, Wien, 31.12.1914–31.01.1915