Roessler 1918a
Arthur Roessler: „Feuilleton. Sezession“, in: Arbeiter Zeitung, 23.03.1918, S. 1–3
„Pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper fuit aequa potestas“, hat schon Horaz gesagt – „Maler und Dichter, erlaubt war stets euch jegliches Wagestück“ – und oft schon sahen die Menschen Wagestücke, gewagte Stücke von Künstlern, und das Schauspiel, wie sich eine Schar junger Männer zusammenfand, mit inbrünstigem Eifer in heftigen Erörterungen sich gegenseitig erregte, in der festen Absicht, einen Umsturz in der Kunst zu bewirken. Erinnert sei nur an die Akademiker der Spätrenaissance, an die Klassizisten, Nazarener, bürgerlichen Romantiker, Stilisten, Präraffaeliten, Naturalisten und Impressionisten. Sie alle waren sich dessen bewußt, daß sie durch ihr Streben und Tun die Geltung in der bürgerlichen Gesellschaft verlieren oder doch wenigstens gefährden, aber es bestärkte sie diese Erkenntnis nur in ihrem Trotz. Mit mehr als drei Vierteln ihrer Mitmenschen im Widerstreit zu sein, empfanden sie nur als Genugtuung ihres Stolzes – wie sie selber meinten, ihrer Eitelkeit, wie die anderen sagten.
Eine frische Schar solcher Neuerer sieht der Wiener Kunstfreund gegenwärtig im Hause der Sezession. So lautet eben darum, zwar nicht in allen, aber in den meisten Kreisen der Wiener Künstler und Kunstfreunde, das Schlagwort des Monats: „Die künstlerischen Bolschewiki in der Sezession!“ Nicht bloß leichtfertige Laien und aus ihrem Gleichmut aufgestörte „Kollegen“ rufen sich dieses Schlagwort zu, sondern auch die hinter-, unter- und nebeneuropäischen Verfasser kunstpamphletischer Berichte für die zivilisierten Tagesdrucksachen gebrauchen es als vermeintliche Schmähung. Es ist daher zu sagen, daß es eigentlich an begründetem Anlaß zur Empörung und Schmähung durchaus mangelt. Die junge Künstlerschaft Oesterreichs, die um Klimt geschart war und die nunmehr nach dem Tode ihres freigewählten Führers und nachdem sie während des Krieges im neutralen Ausland, in der Schweiz, in Schweden und Dänemark, mit nicht geringem Erfolg ihre Werke zur Schau gebracht hatte, im Hause der Wiener Sezession kurzfristige Herberge fand, ist gar nicht so „erschröcklich revolutionär“, wie sie den Wienern erscheint.
Ich bestreite nicht, daß diese Ausstellung mancherlei Fragwürdiges und viel Unvollkommenes enthält; aber ich behaupte auch, daß sie nichts Langweiliges, nichts gänzlich Kunstloses und geistig Unfruchtbares darbietet. Als Gesamtbild genommen, dessen Niveau ungewöhnlich ansehnlich wirkt, ist diese Ausstellung als ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstentwicklung zu werten, durch den augenfällig dargetan wird, daß sich doch auch in Oesterreich starke und bedeutungsvolle geistige und künstlerische Bewegungen vollziehen, von denen man nur sonst nicht viel zu merken bekommt, da sie aus Unverständnis, Mißgunst und Angst mit allerlei Mitteln der Gewalt und List um ihre Wirkung in der Öffentlichkeit betrogen werden.
Egon Schiele. Vor Jahren äußerte ich an dieser Stelle, daß man Schiele, den präsumtiven Thronfolger Klimts, so lange mit Steinen bewerfen würde, bis ihm aus den Steinen ein Denkmal errichtet werden könnte. Denn man pflegt in Wien derlei gern zu tun. Ich behielt, wie ich mit Vergnügen bekenne, zum Glück des Künstlers nicht recht; denn ihm hat es das Schicksal verhängt, bei lebendigem Leibe berühmt, nicht nur berüchtigt zu werden. Ein für Wien unglaubliches Geschehen, wenn man bedenkt, daß Schiele unter den übrigen Wiener Künstlern wie ein Fremder wirkt, wie jemand, der von den Toten auferstand und voll schmerzlicher Verwirrung seine geheimnisvolle Botschaft mit sich umher unter die Menschen trägt, ohne die Gelegenheit zu finden, sie auszurichten. Seine bis zur Mystik verinnerlichte Religiosität hatte Schiele spontan in die Erotik getrieben, in eine vom Sentimentalen bis ins Perverse abgestufte Erotik, und ihn dadurch zu einem Greuel und Scheuel aller heuchlerischen Moralspießer gemacht. Nunmehr er das Abiturium des Absurden in der Akademie des Revolutionären – einer Akademie, die nicht weniger verzopft als alle anderen ist –, wo er das Unkorrekte korrekt auszudrücken gelernt hat, absolviert zu haben scheint, verweigert man ihm in Wien nicht mehr die Anerkennung seines ungewöhnlichen Könnens – mit Einschränkungen, begreiflicherweise; denn er ist auch heute noch nicht „anmutig“ und „liebenswürdig“ und entspricht auch sonst nicht der landläufigen Vorstellung vom Maler. Schiele ist im Gegenteil vielleicht weniger Maler als andere; sicherlich weniger Maler als etwa Fischer und Faistauer; aber er will die Malerei, wie sie seine beiden Kampfgenossen besitzen, gar nicht, ja nicht einmal die ihm eigene; er will sie jedenfalls nicht vor allem anderen. Ihm ist die Malerei nur Mittel zum Zweck – ein allerdings sehr seines, hochentwickeltes Mittel – und sein Zweck ist die Vollendung eines geist-sinnlichen Anschauens, einer Seherschaft, über deren Zauber man die sinnlichen Reize der Linie und Farbe vergessen kann und soll.
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Eine frische Schar solcher Neuerer sieht der Wiener Kunstfreund gegenwärtig im Hause der Sezession. So lautet eben darum, zwar nicht in allen, aber in den meisten Kreisen der Wiener Künstler und Kunstfreunde, das Schlagwort des Monats: „Die künstlerischen Bolschewiki in der Sezession!“ Nicht bloß leichtfertige Laien und aus ihrem Gleichmut aufgestörte „Kollegen“ rufen sich dieses Schlagwort zu, sondern auch die hinter-, unter- und nebeneuropäischen Verfasser kunstpamphletischer Berichte für die zivilisierten Tagesdrucksachen gebrauchen es als vermeintliche Schmähung. Es ist daher zu sagen, daß es eigentlich an begründetem Anlaß zur Empörung und Schmähung durchaus mangelt. Die junge Künstlerschaft Oesterreichs, die um Klimt geschart war und die nunmehr nach dem Tode ihres freigewählten Führers und nachdem sie während des Krieges im neutralen Ausland, in der Schweiz, in Schweden und Dänemark, mit nicht geringem Erfolg ihre Werke zur Schau gebracht hatte, im Hause der Wiener Sezession kurzfristige Herberge fand, ist gar nicht so „erschröcklich revolutionär“, wie sie den Wienern erscheint.
Ich bestreite nicht, daß diese Ausstellung mancherlei Fragwürdiges und viel Unvollkommenes enthält; aber ich behaupte auch, daß sie nichts Langweiliges, nichts gänzlich Kunstloses und geistig Unfruchtbares darbietet. Als Gesamtbild genommen, dessen Niveau ungewöhnlich ansehnlich wirkt, ist diese Ausstellung als ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstentwicklung zu werten, durch den augenfällig dargetan wird, daß sich doch auch in Oesterreich starke und bedeutungsvolle geistige und künstlerische Bewegungen vollziehen, von denen man nur sonst nicht viel zu merken bekommt, da sie aus Unverständnis, Mißgunst und Angst mit allerlei Mitteln der Gewalt und List um ihre Wirkung in der Öffentlichkeit betrogen werden.
Egon Schiele. Vor Jahren äußerte ich an dieser Stelle, daß man Schiele, den präsumtiven Thronfolger Klimts, so lange mit Steinen bewerfen würde, bis ihm aus den Steinen ein Denkmal errichtet werden könnte. Denn man pflegt in Wien derlei gern zu tun. Ich behielt, wie ich mit Vergnügen bekenne, zum Glück des Künstlers nicht recht; denn ihm hat es das Schicksal verhängt, bei lebendigem Leibe berühmt, nicht nur berüchtigt zu werden. Ein für Wien unglaubliches Geschehen, wenn man bedenkt, daß Schiele unter den übrigen Wiener Künstlern wie ein Fremder wirkt, wie jemand, der von den Toten auferstand und voll schmerzlicher Verwirrung seine geheimnisvolle Botschaft mit sich umher unter die Menschen trägt, ohne die Gelegenheit zu finden, sie auszurichten. Seine bis zur Mystik verinnerlichte Religiosität hatte Schiele spontan in die Erotik getrieben, in eine vom Sentimentalen bis ins Perverse abgestufte Erotik, und ihn dadurch zu einem Greuel und Scheuel aller heuchlerischen Moralspießer gemacht. Nunmehr er das Abiturium des Absurden in der Akademie des Revolutionären – einer Akademie, die nicht weniger verzopft als alle anderen ist –, wo er das Unkorrekte korrekt auszudrücken gelernt hat, absolviert zu haben scheint, verweigert man ihm in Wien nicht mehr die Anerkennung seines ungewöhnlichen Könnens – mit Einschränkungen, begreiflicherweise; denn er ist auch heute noch nicht „anmutig“ und „liebenswürdig“ und entspricht auch sonst nicht der landläufigen Vorstellung vom Maler. Schiele ist im Gegenteil vielleicht weniger Maler als andere; sicherlich weniger Maler als etwa Fischer und Faistauer; aber er will die Malerei, wie sie seine beiden Kampfgenossen besitzen, gar nicht, ja nicht einmal die ihm eigene; er will sie jedenfalls nicht vor allem anderen. Ihm ist die Malerei nur Mittel zum Zweck – ein allerdings sehr seines, hochentwickeltes Mittel – und sein Zweck ist die Vollendung eines geist-sinnlichen Anschauens, einer Seherschaft, über deren Zauber man die sinnlichen Reize der Linie und Farbe vergessen kann und soll.
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Ausstellungen
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XLIX. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs SecessionVereinigung bildender Künstler Österreichs Secession, Wien, 01.03–01.04.1918