Roessler 1912

Arthur Roessler: „Feuilleton. Hagenbund“, in: Arbeiter Zeitung, 14.05.1912, S. 1–3
Die heurige Frühjahrsausstellung des Künstlerbundes Hagen hätte seine erste Jubiläumsausstellung sein können, insofern Ursache gewesen wäre, den zehnjährigen Bestand der verdienstvollen Vereinigung zu feiern. Die Ursache ist wohl vorhanden, es fehlt jedoch die „Stimmung“ aus sehr triftigen Gründen und so unterbleibt die Feier. Die von der Delogierung bedrohten Künstler empfinden keine Lust zu irgend welcher „Feier“, denn so viel Galgenhumor besitzt selbst das als „leichtsinnig“ verschriene Künstlervolk nicht, den unaufschiebbar festgesetzten Termin feiner Obdachlosigkeit mit einer Jubelausstellung zu feiern. Im Gegenteil, die Ausstellung ist gleichsam eine Abschiedsvorstellung und als solche in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Sie ist nämlich eine Ausstellung der Jungen, der ganz Jungen, der Brauser und Stürmer, des Nachwuchses, der Werdenden und Kommenden, und sie macht deutlich, daß die Entwicklung der Kunst nicht aufzuhalten ist, auch nicht mit Brachialgewalt. Das aus einem melancholisch-satirischen Gefühl heraus entstandene Titelblatt des Katalogs, das einen Hanswurst und einen Affen darstellt, die in grotesker Bewegung den immergrünen und immerblühenden Baum der Kunst über den Wurzeln abzusägen sich mühen, versinnbildlicht in recht drastischer Weise die Kunstsinnigkeit der christlichsozialen Stadtverwaltung von Wien, aber es übertreibt; denn es mag wohl möglich sein, einen Ast des Kunstbaumes abzusägen, nicht aber ist es möglich, den Stamm selbst zu fällen. Und mehr als ein Ast – bildlich gesprochen – ist eine lokale Künstlervereinigung nicht. Freilich kann just der angesägte Ast ein besonders starker, blüten- und früchtereicher sein, und da bleibt es eben immer bedauerlich, wenn er fallen soll. Beim Hagenbund trifft es nun auch die über ihn von der Wiener Stadtverwaltung verhängte Vernichtung bei allen wahren Freunden der Kunst tiefstes Bedauern auslöst.
Ueber die Entstehung und allmähliche Entwicklung des Hagenbundes berichtet eine dem Katalogverzeichnis vorgedruckte Erklärung, der, ihrer dokumentarischen Bedeutung halber, die nachstehenden Sätze entnommen seien:
„Der Hagenbund, der mit der Tendenz einer gemäßigten Moderne begründet wurde, zeigte in seinen Ausstellungen natürlich in erster Reihe die künstlerische Entfaltung seiner eigenen Mitglieder, deren Stand einem ziemlichen Wechsel unterworfen war. Im Allgemeinen hat sich die Entwicklung in der Richtung des Intimen bewegt und in der Malerei besonders auf die Durchbildung stimmungsvoller Landschaften konzentriert. Die sich hieraus ergebende spezifisch wienerische Note der Ausstellungen wurde zu einer österreichischen erweitert durch Heranziehung der slavischen Künstler, nachdem der repräsentative Verband tschechischer Künstler „Manes“ im Jahre 1902, die polnische Künstlergruppe „Sztuka“ im Jahre 1908 ihre großen Kollektivausstellungen in den Räumen des Hagenbundes veranstalteten, wo sie seitdem ständige Gäste blieben. Zwei Gesamtausstellungen der österreichischen Künstlergruppe „Jungbund“, eine Spezialausstellung der Werke des Ehepaares Mediz und die Durchführung einer Ausstellung der jüngsten Modernen im Jahre 1911 sowie der Vereinigung bildender Künstlerinnen Oesterreichs betonten weiter den österreichischen Grundcharakter der Hagenbund-Veranstaltungen, die durch Einschiebung von Darbietungen ausländischer Kunst ihren weiteren Ausbau erhielten. Als Einzelerscheinungen wurden dem Wiener Publikum vorgeführt: Arnold Böcklin 1903, Max Liebermann 1904, Konstantin Meunier 1906, Lovis Corinth 1906, Heinrich und Willy Zügel, Georg Wrba und Vettore Zanetti-Zilla 1907, Théo van Rysselberghe, Gino Parin und Rudolf Sieck 1908, Karl Heider 1908, Otto Hierl-Deronco und Wilhelm Busch 1909, Otto Hettner 1910. Als Kollektivausstellungen ausländischer Gruppen wurden im Hagenbund gezeigt: Bund zeichnender Künstler in München 1904 und 1909, Englische Radierer 1905, Sächsische Künstler 1906, Ungarische Künstlervereinigung „Réve“ 1910, Schwedische Künstler 1910 und Moderne Norweger 1912. An Ausstellungen im Ausland hat sich der Hagenbund beteiligt: München 1901, 1904 und 1909, Düsseldorf 1902 und 1911, Dresden 1903, 1908, 1909 und 1911, Saint-Louis 1905, London 1906, Venedig 1907 und Rom 1911.
Es ist selbstverständlich, daß der Hagenbund wie alles Lebendige im Laufe der Jahre Wandlungen durchgemacht hat: das Prinzip des Festhaltens einer gemäßigten Richtung erscheint durch einige neuere Ausstellungen aufgehoben, die von der gegenwärtigen Leitung in wohlüberlegter Absicht veranstaltet wurden. Es darf daher nicht als Entschuldigung missdeutet werden, wenn der Hagenbund diese Wandlung mit folgendem erklärt: „Jeder Verein, der künstlerische Interessen vertritt und in der Lage ist, durch Veranstaltungen von Ausstellungen den Ueberblick über das gegenwärtige Kunstschaffen zu erweitern, hat die moralische Verpflichtung, der Oeffentlichkeit möglichste Einsicht in die künstlerische Entwicklung jeder Richtung zu vermitteln; da seit Schließung der „Kunstschau“ in Wien die neuesten Kunstregungen totgeschwiegen oder unterdrückt werden, muss der Hagenbund hier eingreifen; er tut es bewusst und umso lieber, als seine ursprüngliche Aufgabe, durch die Pflege gemäßigter moderner Kunst das Verständnis für schwerer zu Erfassendes in weitere Kreise zu tragen, heute als erfüllt angesehen werden darf. Man wird es uns (den Hagenbündlern) nicht verübeln, daß wir uns bei zunehmendem Alter nach der Richtung der Jugend hin entwickeln: allen jungen Talenten die Wege zu ebnen ist immer als dankenswert empfunden worden, und der Hagenbund rechnet es sich zur Ehre an, Künstler wie Hanak und Mestrovic zuerst dem Wiener Publikum vorgeführt zu haben... Wir wollen auch heute offen für die Jugend eintreten, denn das Neue, das Jugendliche, die Zukunft ist nicht der Feind, sondern die Fortsetzung des Gegenwärtigen, und nur durch gutwilliges, vorurteilsfreies Entgegenkommen ist es möglich, das scheinbare Zusammenprallen unvereinbarer Gegensätze als natürliche Entwicklung erkennen zu lassen. Sollte diese Ausstellung wirklich die letzte des Hagenbundes sein, so betonen wir damit noch zum Schluss ein wahrhaft künstlerisches Moment: die Freude am Werdenden.“
Das ist mit berechtigtem Stolze und mutig gesprochen. Wichtiger aber ist, dass der Rede gemäß gehandelt wurde und wird. Wenn es sich bewahrheiten sollte, dass der Hagenbund tatsächlich seiner Existenzmöglichkeit beraubt wird, daß er sein bisherige Gestalt ausgeben muss, vollzieht sich seine Auflösung wenigstens in einer für ihn selbst durchaus ehrenhaften, ja würdigen Weise. In seinem Dasein gefährdet, weicht er der Gefahr nicht feige aus, läßt er sich nicht zu feiger Konzessionsmacherei herbei, sondern bleibt er, was er stets war, ein kulturell und künstlerisch hochbedeutsamer Lebensausdruck. Die sich einmal als Hohn, ein andermal als Wut äußernde Erbitterung seiner Gegner vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern; denn wahr bleibt, dass eine seiner Ausstellungen uns mehr neue Kunst- und somit Lebenserkenntnisse vermittelt als ein Dutzend der vom Künstlerhause veranstalteten.
Eine harmonisch übereinstimmende Ausstellung ist die gegenwärtige allerdings nicht, ihre verwirrende Vielfältigkeit ist vielmehr von einer starken Dissonanz durchschrillt; aber „in dieser Dissonanz kündigt sich“, wie ein Feinhöriger sagte, „lange schon von weither dumpf grollend eine Revolution an, die notwendig eine Revolution aller Werte und Lebensformen wird sein müssen; die wahrscheinlich mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch zur Schaffung neuer notwendiger äußerer Lebensbedingungen ihren Anfang nehmen wird, um zu einer vollständigen Kulturrevolution, das heißt einer Revolution aller Lebensformen auf einmal auszuwachsen“. Viele der echten Werke, die jetzt entstehen, müssen daher notwendig ebensosehr Akte der Zerstörung wie der Neuschöpfung sein. Die Hervorbringungen der einzelnen scheinbar Abseitsstehenden und Eigenbrödlerischen, so sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen, haben dennoch ein Gemeinsames: die Sehnsucht nach neuen Formen und Werten, und sind deshalb symptomatisch für den unterirdischen Trieb und das Werden der neuen Zeit.
Um zur Besprechung der einzelnen Erscheinungen zu kommen, die dieser Ausstellung ein besonderes Gepräge verleihen, sei mit Egon Schiele begonnen. Als dieser junge Künstler zum ersten- und zweitenmal Arbeiten von sich in Wiener Ausstellungen zeigte, brüllten die Kunstbanausen wutgeifernd auf, weil sie sich durch die ungewöhnlichen Bilder, die ihnen Schiele darbot, überaus gereizt fühlten. Da jedoch die gallgiftige Ablehnung Schiele nicht einzuschüchtern vermochte, trachtete man sich an ihm durch Spott, Hohn, Verleumdung, Aechtung zu rächen, und weil ihn auch das nicht bekehrte, kaum bekümmerte, versuchte man es mit dem sonst probaten Mittel des Totschweigens. Aber auch das versagte, und darauf begann man ihn zu fürchten. Man begann sich für sich und aus Solidaritätsgefühl für Gleichgeartete zu fürchten, und zwar davor, hart mitgenommen, gräßlich enthüllt zu werden, zu leiden. Man hatte nämlich an einigen der von Schiele gemalten Bildnisse erkannt, dass er das Innere der Menschen nach außen zu stülpen vermag, und man graute sich nun vor dem möglichen Anblick des sorgsam Verborgenen, das jauchig und milbig ist und von fressender Zersetzung ergriffen.
Egon Schiele hat Menschenantlitze gesehen und gemalt, die blass schimmern und kummervoll lächeln und den Gesichtern von Vampiren gleichen, denen die grausige Nahrung fehlt; Antlitze von Besessenen, deren Seelen schwären und die unsägliche Leiden zu maskenhafter Starre gerinnen ließen; dann Antlitze, die in feiner Art die Synthese eines menschlichen Innenlebens bildhaft darbieten, mit allen sachtesten Abstufungen in den sichtbaren Äußerungen des Grüblerischen, Bedächtigen, Ueberlegenden, Verträumten oder des Leidenschaftlichen, des Bösen, Guten, Innigen, Warmen oder Kalten. Er hat die edelsteinkalten Augen in Menschengesichtern gesehen und gemalt, die in den fahlen Farben der Verwesung schimmern, und den Tod unter der Haut. Mit großem Verwundern sah er verklammte, deformierte Hände mit verrunzelter Haut und gelbem Horn der Nägel. Durch Monate war er damit beschäftigt, Proletarierkinder zu zeichnen und zu malen. Ihn faszinierten die Verwüstungen der schmutzigen Leiden, denen diese an sich Unschuldigen ausgesetzt sind. Staunend sah er die seltsamen Veränderungen der Haut, in deren schlaffen Gefäßen dünnes, wässeriges Blut und verdorbene Säfte träge rieseln; staunend sah er auch die lichtscheuen grünen Augen hinter rotgeränderten Lidern, die verskrofelten Handknochen und Kinnladen, die trenzenden Mäuler und – die Seele in diesen schlechten, verdorbenen Gefäßen. Als der Neugotiker, der er ist, sah und malte er das. Aber man mißversteht ihn, wenn man glaubt, dass er, aus perverser Vorliebe all das malt. Er verfolgt keine moralische Absicht, will nicht mit Abscheulichem schrecken, billige Effekte erzielen, nur Neues für die Kunst erobern. Er ist sich bewusst – dies sei nicht bestritten – manche Wirkung durch den Gegenstand zu erreichen bei denen, die nicht genügendes Verständnis für die künstlerische Form haben, und er nimmt diese Tatsache, aus der man so gern einen Vorwurf für den Künstler macht, gelassen hin, weil er noch immer die Form dem Gegenstand überlegen weiß. Daß er durch gewisse seiner Arbeiten auf kunstfremde Menschen wie Dynamit wirkt, sie sprengt, zerreißt, ist eine Tatsache, aber eine absichtslose.
Was er außerdem noch malt? Vielerlei noch, denn bei ihm ist nicht die Not, ist der Ueberfluss schöpferisch geworden, so sehen wir von ihm gemalte Landschaften, Ansichten alter, traumhafter Städte, Stillleben, Materialisationen von im verdunkelten Bewußtsein hell gewordenen Erscheinungen und eine schier unzählbare Reihe von Aktstudien. Mit alledem entspricht er natürlich nicht dem bleichsüchtigen Moralideal vom guten Menschen als Künstler, wirkt er vielmehr unbescheiden, unmäßig, rücksichtslos, Philister schreckend. Seine Arbeiten sind gleichwohl Kunstwerke und Werturteile. Wogegen er – absichtslos – protestiert? Gegen die Halben, Gleichgewichtigen, die Würdeprotzen, die sich gesund, gerecht und allzeit vernünftig Dünkenden, die satten Allzufriedenen, kurz gesagt: gegen die Mittelmäßigen, die sich für das Maß des Menschen halten. Charakteristisch für seine gleichsam traumwandlerisch intuitive Schaffensart ist es, daß seiner aufgestauten Kraft mitunter Bildwerke gelingen, die hoch über seinem eigenen verstandsmäßigen Urteil stehen. Ein solches Werk ist das unter Nr. 238 ausgestellte Bild „Tote Mutter“. Ein Vergleich mit dem berühmten Blatt aus Klingers Radierzyklus „Vom Tode“, das das gleiche Thema behandelt, wird beweisen, daß man es bei Klinger mit einer Illustration, bei Schiele mit einem die Steigerung tragischer Wirkung erreichenden Kunstgebilde zu tun hat.
[…]
A. R-r.

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Ausstellungen

  • 35. Ausstellung des Künstlerbundes Hagen. Frühjahrsausstellung
    Hagenbund, Zedlitzhalle, Wien, 23.03.–ca. 31.07.1912